📖 Buch Rezension & Kritik Lügen über meine Mutter -

Rezension vom 01.05.2023

Ein autofiktionaler Roman von Daniela Dröscher, der 2022 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand.

Lügen über meine Mutter Daniela Dröscher

“Lügen über meine Mutter” ist ein autofiktionaler Roman von Daniela Dröscher, der 2022 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. Der Roman spielt in den Jahren 1983 bis 1986, in einem Dorf im Hunsrück. Die 6- bis 9-Jährige Ela erzählt von ihrem Aufwachsen in einer Familie, in der scheinbar alles von einem Thema bestimmt wird: dem Gewicht der Mutter. Auch wenn sich die Mutter selbst hübsch findet, ist der Vater ganz und gar nicht mit ihrem Äußeren einverstanden. Er macht ihr Aussehen konkret dafür verantwortlich, dass er nicht befördert wird. Aber auch für alles andere, was schief läuft. Und so verlangt er immer wieder von ihr, dass sie abnimmt: “Jetzt ist Schluss mit den ganzen Ausweichmanövern. Ich verlange, dass du abnimmst, und zwar sofort.” Im Konflikt mit dem Ehemann steht die Mutter allein da. Weder ihre Eltern, noch ihre Schwiegereltern unterstützen sie. Eine Freundin oder Vertrauensperson im Dorf hat sie nicht. Auch wenn die Mutter dem Vater Paroli bietet und sich bei Themen wie dem Französisch-Diplom durchsetzt, fügt sie sich doch immer wieder und steigt auch auf die Waage, wenn er es verlangt. Sie macht eine Diät nach der anderen, nimmt aber trotzdem zu. Und als sie das zweite Kind bekommt, ihre an Alzheimer erkrankte Mutter pflegt und selbst mit Schmerzen zu kämpfen hat, ist das Abnehmen ihr geringstes Problem.

In dem Roman “Lügen über meine Mutter” geht es aber um so viel mehr als das Körpergewicht der Mutter: Wir erleben das Wohlstandsstreben in den 80iger Jahren der BRD mit Kohl-Regierung, Kaltem Krieg und Tschernobyl. Die Diskussion Stadt versus Land mit der fehlenden Kinderbetreuung auf dem Dorf. Aussiedlung und Vertreibung spielen eine Rolle sowie das Weitergeben von Lasten von einer Generation an die nächste, das Thema Schuld eingeschlossen. Noch mehr Themen bringt Daniela Dröscher in den Einschüben auf, in denen sie aus heutiger Perspektive die Kindheitserzählung reflektiert. Wir erfahren darin z.B., dass das Schreiben “eine ewige Kur” für die Autorin ist. Dieses Buch ist für sie Teil ihrer Therapie, um mit dem Drama der Kindheit fertig zu werden. Dabei spricht sie in den Einschüben immer wieder mit ihrer Mutter. Allerdings: Wozu die Geschichte veröffentlichen? Gehört dies auch zur Therapie? Oder soll die Geschichte andere Frauen erreichen, um ihnen als abschreckendes Beispiel zu dienen? Daniela Dröscher selbst ist es, die dabei das Thema Ausbeutung anspricht: “Beute ich meine Mutter aus, indem ich ein Buch über sie schreibe? - … Ja. Vielleicht.”

Was der Vater und die Schwester dazu sagen, erfahren wir nicht. Für manch eine Leserin aus unserem Literaturkreis war das zu einseitig. Sie hätten gerne noch andere Perspektiven gehört. In jedem Fall hat das Buch uns alle bewegt: Wir haben gegen den Vater gewütet, mit der Mutter und ihrem lebenslangen, körperlichen Leiden mitgefühlt und Elas Schuldgefühle bedauert, die jetzt hoffentlich nicht mehr auf Daniela Dröschers Schultern lasten. “Lügen über meine Mutter” ist ein lesenswertes Buch, in dem eine Menge Stoff zum Diskutieren und Nachdenken steckt.

Rezension - besprochenes Buch

Titel: Lügen über meine Mutter
Belletristik
⭐⭐⭐⭐⭐
448 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Erscheinungsjahr:
ISBN: 978-3-462-00199-0

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