📖 Buch Rezension & Kritik Kangal -

Rezension vom 01.02.2023

Ein außergewöhnlicher DebĂŒtroman, bei dem es um die Protestaktionen gegen den autoritĂ€ren TĂŒrkischen Staat und den Konflikt zwischen den in Deutschland lebenden TĂŒrken und den TĂŒrken in der TĂŒrkei geht.

Kangal Anna Yeliz Schentke

In unserer Runde am 8. November 2022 waren wir uns einig: Ohne den Lesekreis hĂ€tte wahrscheinlich keine von uns zum Buch gegriffen. Und dennoch war die große Mehrheit dankbar fĂŒr diese Leseerfahrung. Denn mit ihrem DebĂŒtroman hat Anna Yeliz Schentke eine große Leistung vollbracht. Mit wenigen Worten, teilweise Textfragmenten, sagt sie sehr viel. Kunstvoll hat die Autorin die drei ErzĂ€hlerInnen-Stimmen ineinander verwoben. Durch die kurzen SĂ€tze und die schnellen ErzĂ€hler-Wechsel findet sich die Atemlosigkeit auch in der Sprache wieder.

Aber worum geht es eigentlich?

Hintergrund sind die Protestaktionen gegen den autoritĂ€ren TĂŒrkischen Staat, insbesondere der Putschversuch 2016 gegen den PrĂ€sidenten (im Roman: “der, der keinen Namen braucht”). 

Dilek und Tekin sind ein junges Paar in Istanbul. Beide haben zusammen mit Freunden gegen die tĂŒrkische Regierung protestiert. Dilek hat online den Namen “Kangal1210” - damit ist sie anonym im Netz unterwegs (Kangal = tĂŒrk. Herdenschutzhund).

Der Roman beginnt damit, dass Dilek nach Deutschland flieht, um dem GefĂ€ngnis zu entkommen. Sie fliegt nach Frankfurt, wo ihre Cousine Ayla lebt, mit der sie als Kind eng befreundet war. Aber seit dem Streit der MĂŒtter gab es keinen Kontakt mehr.

Der Konflikt zwischen den in Deutschland lebenden TĂŒrken und den TĂŒrken in der TĂŒrkei setzt sich fort: Ayla, die die TĂŒrkei vermisst, kann nicht verstehen warum Dilek fliehen musste und Dilek fĂŒrchtet die in Deutschland lebenden TĂŒrken, die den PrĂ€sidenten unterstĂŒtzen. Sie fĂŒrchtet sich davor, verraten zu werden, dem tĂŒrkischen Staat als Oppositionelle gemeldet zu werden.

Ihr Freund Tekin in Istanbul versucht derweil, Klarheit darĂŒber zu erlangen, ob Dilek tatsĂ€chlich auf einer der gefĂŒrchteten Listen der Regierung steht.

Wir waren uns einig darĂŒber, wie schlimm es ist, wenn du niemandem vertrauen kannst. Wenn du vor jedem Wort, das du sagen willst, innehalten musst. Nichts Falsches sagen darfst. Dilek sagt dazu im Roman: “Das Leben fließt nicht mehr, es wird klebrig, bleibt hĂ€ngen, es wird stĂ€ndig unterbrochen, und manchmal vergisst du sogar zu atmen.”

Ein paar in unserer Runde haben sich hier an die DDR-Diktatur erinnert gefĂŒhlt. Und so lĂ€sst sich Einiges im Roman auf andere autoritĂ€re Systeme ĂŒbertragen. Das gelingt der Autorin auch dadurch, dass es zum Beispiel nicht um etwas Konkretes geht, was Kangal1210 gesagt oder getan hat.

Ohne Wertung zeigt die Autorin die unterschiedlichen Standpunkte und Welten, in denen die Protagonisten leben. Wir konnten die verschiedenen Seiten nachvollziehen.

Was bleibt, ist eine KomplexitÀt, die nicht einfach zu lösen ist. Es bleibt komplex.**

Rezension - besprochenes Buch

Titel: Kangal
Belletristik
⭐⭐⭐⭐⭐
208 Seiten
Verlag: S. Fischer
Erscheinungsjahr:
ISBN: 978-3-10-397081-4

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