Reviews

Mit Hiroko Oyamadas neuem Roman Das Loch tauchen wir ein in einen japanischen Sommer auf dem Land. Die Zikaden zirpen, die Sonne brennt und Asa, die Ich-Erzählerin, ist gerade mit ihrem Mann von der Stadt aufs Land zu den Schwiegereltern ins Nachbarhaus gezogen. Während ihr Mann rund um die Uhr arbeitet, hat die junge Frau von fast 30 Jahren in ihrer plötzlichen Rolle als Hausfrau auf einmal viel Zeit. Was ihre ehemalige Kollegin als Traum bezeichnet hat, langweilt sie.

Hallo, du Schöne möchte ich der Frau auf dem Gemälde zurufen, das Ann Napolitanos gleichlautenden Roman schmückt. Mit den dunklen Augen und dem lockigen, langen Haar steht sie vermutlich stellvertretend für die vier Padavano Schwestern, um die es in dem neuen Buch der US-amerikanischen Autorin geht. Alle vier wurden von ihrem Vater mit dieser Anrede begrüßt. “Es war ein schöner Gruß, der sie mit dem Wunsch erfüllte, wieder zu gehen und noch einmal hereinzukommen.

Diane Olivers Kurzgeschichtenband Nachbarn kann als Fundstück des Jahres 2024 gelten. Denn acht der insgesamt vierzehn Erzählungen wurden im Nachlass der afroamerikanischen Autorin gefunden und weltweit das erste Mal veröffentlicht. In den Geschichten geht es um das Leben schwarzer Frauen in unterschiedlichen Altersstufen im Amerika der 60er Jahre. Es ist die Zeit der Bürgerrechtsbewegungen, in der die Segregation per Gesetz aufgehoben ist und die ersten schwarzen Kinder und Studierenden auf bis dahin Weißen vorbehaltenen Schulen bzw.

Benjamin Myers Offene See handelt vom 16-Jährigen Robert, der sich aus einem Bergarbeiterdorf im Norden Englands auf Wanderschaft Richtung Meer, zur Offenen See begibt. Es ist das Jahr 1946, kurz nach Kriegsende, Robert hat die Schule abgeschlossen und bevor er in die Fußstapfen seines Vaters, Großvaters und der Männer davor tritt und im Bergbau anfängt, verbringt er einen Sommer in der Ferne. Eine Art Work & Travel in der Nachkriegszeit - er verdient sein Essen auf Bauernhöfen und nächtigt auf den dortigen Wiesen.

Im Essayband Randmeer beschäftigt sich der hauptberufliche Nachrichtenjournalist Olaf Kanter mit der Nordsee, dem flachen Randmeer des Atlantischen Ozeans, entstanden vor 150 Millionen Jahren. Als Segler teilt er die Vorstellung von Millionen Touristen, von der weiten, offenen See, muss jedoch einräumen, dass die Realität eine andere ist. Statt schöner wilder Wasserwelt herrscht dichter Schiffsverkehr. Olaf Kanter spricht von 420.000 Schiffsbewegungen in der Nordsee im Jahr, 120.000 allein in der Deutschen Bucht.

In Gregor Hens neuem Roman Die eigentümliche Vorliebe für das Meer, erschienen 2023 im Aufbau Verlag, tauchen wir in eine ungewöhnliche Familiengeschichte ein, die in zwei sehr unterschiedlichen Hafenstädten angesiedelt ist: auf der einen Seite das eher kühle, nüchterne Geest, das an der Nordsee liegen könnte, und auf der anderen Seite der schwül-heiße Inselstaat Nam Van, den man sich laut Autor als (kleinere) Schwesterstadt von Hongkong und Macau vorstellen kann. Dazwischen das Meer als verbindendes Element.

Im Meeresroman, der 2017 im Mare Verlag erschienen ist, schildert uns Petri Tamminen auf nur 108 Seiten das tragikomische Leben des Seekapitäns Vilhelm Huurna. Vom Moment, als dieser mit 12 Jahren seine Mutter sagen hört: ”(…) eines Tages werde Vilhelm als Kapitän eines großen Schiffes über die Weltmeere segeln.”, bis zu seinem Lebensabend am Postanleger, wo er manchmal von einem jungen Schiffer um Rat gefragt wird. Dazwischen kommandiert Vilhelm Huurna große Segelschiffe auf den europäischen Handelsrouten des 19.

Dank unserer “Klassiker” Leserunde im Literaturkreis Stralsund bin ich zu Vicki Baums Roman “Menschen im Hotel” von 1929 gekommen, der uns ins Berlin der 20er Jahre führt. Im Grand Hotel Berlin treffen eine Handvoll Menschen zufällig aufeinander: die in die Jahre gekommene Ballerina Grusinskaja, der Hochstapler Baron Gaigern, der schwerkranke Buchhalter Kringelein, sein Chef Generaldirektor Preysing, die zu schöne Sekretärin, genannt Flämmchen, und nicht zu vergessen der Dauergast Dr. Otternschlag, der sich selbst als lebender Selbstmörder bezeichnet.

Bei diesem Roman ist das Cover Programm. Im Graphic Novel Stil zeigt es alles, worum es in der Geschichte geht: ein Mehrfamilienhaus außerhalb des Berliner S-Bahn-Rings, in das ein junges Paar gezogen ist, bei dem Er, Tim, der Hausmann ist und Sie, Thea, das Geld verdient (deshalb liegt sie im Bett wohl oben). Während Thea den Druck im neuen Job kaum aushält, putzt Tim Wohnung und Hausflur, bringt seinem Nachbarn Maxim aus der Ukraine Deutsch bei und hilft der 80-Jährigen Dagmar ins Internet.

Passend zum anstehenden 250. Geburtstag Caspar David Friedrichs im kommenden Jahr porträtiert Florian Illies den großen deutschen Maler der Romantik in seinem neuen Werk “Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten”. In der Illies eigenen Collagen-Manier bringt er uns Leben und Werke des Malers näher, indem er sie mit historischen Ereignissen und Personen der Zeitgeschichte verknüpft. Dabei erfolgt seine Erzählung nicht chronologisch, vielmehr fühlt es sich an, als säße man in einer Zeitkapsel: Florian Illies springt mit seinen Geschichten immer wieder vor und zurück und folgt dabei der Einteilung des Buches nach den Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft.

Lauren Groff versetzt uns in “Die weite Wildnis” ins frühe 17. Jahrhundert nach Nordamerika. Wir befinden uns mitten auf der Flucht mit einem Mädchen, das sich durch die erbarmungslose Natur kämpft. Sie ist klein, abgemagert und draußen herrscht bitterkalter Winter. Das Mädchen fürchtet die Englischen Siedler hinter sich, mit denen sie als Magd über den Atlantik gekommen ist, und ebenso die Bewohner des fremden Landes vor sich. Mit Messer, Beil, Feuerstein, Zinnbecher und zwei Decken im Gepäck läuft sie um ihr Leben und treibt ihren geschundenen Körper immer weiter vorwärts gen Norden.

Es gibt sie, die Bücher, bei denen du laut loslachen musst, auch wenn die anderen im Raum komisch gucken. “Nincshof”, der Debütroman von Johanna Sebauer, ist solch ein Buch. Worum geht es? Das fiktive Dorf Nincshof im österreichischen Burgenland an der ungarischen Grenze will von der Welt vergessen werden. Zumindest ist das der Plan der Protagonisten, die sich “die Oblivisten” nennen. Da von außen nur Unheil kommt (“Steuern, Wehrdienst, Sonntagsruhe”), liegt das Glück und die Freiheit für sie im Vergessenwerden.

Wer kennt sie nicht, die Sehnsucht nach Strand und Meer, die uns immer wieder an die Küsten dieser Erde zieht. So auch die Journalistin Hella Kemper und den Küstenforscher Karsten Reise. Zusammen teilen sie innerhalb der European Essays on Nature and Landscape Reihe “Strand” ihr Wissen und ihre Erfahrungen rund um diesen besonderen Ort zwischen Meer und Festland. Den Einstieg finden die beiden über unsere Sehnsucht nach dem Strand, die Maler wie Max Beckmann und Peder Severin Krøyer auf die Leinwand gebracht haben.

Das Buch “Kleine Kratzer” von Jane Campbell vereint zwei Raritäten: Kurzgeschichten und Heldinnen, die über 70 Jahre alt sind. Aber keine Sorge, die 13 verschiedenen Frauen, die in den 13 Geschichten zu Wort kommen, lassen sich nicht einfach als »alt« abstempeln. Sie sind im Gegenteil voller Leben und für so manche Überraschung gut. So verliebt sich z.B. Susan mit 86 Jahren in ihre 50 Jahre jüngere Pflegerin. Eine andere Frau kann den wöchentlichen Besuch ihres »Phantasmas« nicht abwarten, der sich in der neuen Welt um die körperlichen Bedürfnisse der allein lebenden Frauen über 70 kümmert.

Mit dem Roman “Machandel” ist Regina Scheer 2014 ein meisterhaftes Debüt gelungen. Wie in Zeitzeugenberichten blicken fünf Ich-Erzähler*innen zurück auf ihre Geschichte, die vom Zweiten Weltkrieg bis zur Wende und darüber hinaus reicht, und eng verwoben ist mit dem Mecklenburgischen Dorf Machandel. Als die Haupterzählerin Clara auf das nach dem Machandelbaum (= Wacholderbaum) benannte Dorf trifft, startet mit ihrer Dissertation über das plattdeutsche Märchen vom Machandelboom der mystische Teil des Romans.

“Paradise Garden” lautet der Titel von Elena Fischers Debütroman, der im August bei Diogenes erschienen ist und es direkt auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 geschafft hat. So malerisch wie der Name des Buches klingt, ist diese einfach schöne Geschichte. Und das, obwohl sie mit dem schweren Thema Tod der Mutter beginnt: “Meine Mutter starb diesen Sommer.” In der Rückblende erzählt die 14-Jährige Billie vom Leben mit ihrer Mutter auf engstem Raum in einer Hochhaussiedlung.

Für die einen ist “Koller” eine Road-Novel, für mich ist es eine moderne, queere Schöpfungsgeschichte. Denn Annika Büsing erzählt die Geschichte vom Titel gebenden Koller (eigentlicher Name: Kolja) und Chris analog zur Bibel in sieben Tagen: die erste Begegnung des schwulen Paars und ihr spontaner Roadtrip von Leipzig an die Ostsee, der über Umwege erfolgt. Und so lernen wir Kollers behinderte Schwester Birte sowie seine vierjährige Tochter Hannah kennen, die Koller zum ersten Mal trifft.

Im biografischen Roman “Die Postkarte” begibt sich die französische Autorin Anne Berest auf Spurensuche nach ihren jüdischen Vorfahren. Auslöser für Annes Nachforschungen sind eine anonyme Postkarte, auf der die vier Vornamen der 1942 in Auschwitz ermordeten Familienmitglieder stehen, sowie ein antisemitisches Erlebnis ihrer 6-jährigen Tochter. Um dem aktuellen Vorfall auszuweichen, stürzt sich Anne in die Suche nach dem Absender der Postkarte und begibt sich zusammen mit ihrer Mutter in die Vergangenheit.

Im neuen Roman “Oben Erde, unten Himmel” von Milena Michiko Flašar, erschienen im Februar 2023 im Verlag Klaus Wagenbach, geht es um den Tod. Und damit um nichts Geringeres als das Leben. Und das “Leben probiert man nicht aus. Man lebt es einfach. Es gibt keine Generalprobe (…). Keine Wiederholungen.” Für die 25-Jährige Ich-Erzählerin Suzu, die allein mit ihrem Hamster in einer japanischen Großstadt lebt, besteht das Leben lediglich aus dem Verstreichen von Zeit.

Dank Christine Wunnicke und des Berenberg Verlags dürfen wir eine faszinierende Frau und ihr Werk aus dem 17. Jahrhundert entdecken: Margherita Costa - Schriftstellerin, Poetin, Opernstar und Kurtisane, aber auch Mutter, Feministin und Freigeist. In der schönen, italienisch-deutschen Ausgabe “Margherita Costa: Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht” (erschienen im Frühjahr 2023), sind jetzt erstmals Texte aus ihrem 15 Bücher umfassenden Werk in Deutsche übersetzt worden. Auch wenn es sich um 400 Jahre alte Texte aus dem Hochbarock handelt, lesen sie sich erstaunlich aktuell.

“Lügen über meine Mutter” ist ein autofiktionaler Roman von Daniela Dröscher, der 2022 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. Der Roman spielt in den Jahren 1983 bis 1986, in einem Dorf im Hunsrück. Die 6- bis 9-Jährige Ela erzählt von ihrem Aufwachsen in einer Familie, in der scheinbar alles von einem Thema bestimmt wird: dem Gewicht der Mutter. Auch wenn sich die Mutter selbst hübsch findet, ist der Vater ganz und gar nicht mit ihrem Äußeren einverstanden.

“Ich tauche auf” heißt das neue Buch von Dirk von Lowtzow, das bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Was ein Tourtagebuch des Singer-Songwriters der Indie-Rock-Band Tocotronic hätte werden können, ist zum Pandemie-Tagebuch geworden. Die täglichen Einträge vom 21. März 2020 bis zum 21. März 2021 (von seinem 49. bis zum 50. Geburtstag) bringen eine gewisse Ordnung in Dirk von Lowtzows Leben, das durch Tournee-Verschiebung und Konzertabsagen Kopf steht. Stillstand im Außen, Unrast im Innern.

Fünf Jahre nach Erscheinen seines letzten Romans, hat sich Arno Geiger mit der autobiografischen Erzählung “Das glückliche Geheimnis” Anfang 2023 zurückgemeldet. Um welches Geheimnis es sich handelt, verrät Geiger direkt im zweiten Satz: “Mein glückliches Geheimnis bestand 25 Jahre lang darin, dass ich in Wien ausgedehnte Streifzüge machte und die an den Straßen stehenden, für Altpapier vorgesehenen Behältnisse erkundete auf der Suche nach für mich Interessantem.” Wenn es also nur um das Lüften des Geheimnisses ginge, könnte man das Buch nach der ersten Seite beenden.

In unserer Runde am 8. November 2022 waren wir uns einig: Ohne den Lesekreis hätte wahrscheinlich keine von uns zum Buch gegriffen. Und dennoch war die große Mehrheit dankbar für diese Leseerfahrung. Denn mit ihrem Debütroman hat Anna Yeliz Schentke eine große Leistung vollbracht. Mit wenigen Worten, teilweise Textfragmenten, sagt sie sehr viel. Kunstvoll hat die Autorin die drei ErzählerInnen-Stimmen ineinander verwoben. Durch die kurzen Sätze und die schnellen Erzähler-Wechsel findet sich die Atemlosigkeit auch in der Sprache wieder.

“In blaukalter Tiefe” heißt der neue Roman von Bestsellerautorin Kristina Hauff, der im Februar 2023 bei hanserblau erschienen ist. Zwei Paare und ein Skipper stechen in See mit Kurs auf die schwedischen Schären. Der von Andreas initiierte Segeltörn soll frischen Wind in die Beziehung zu seiner Frau Caroline bringen. Gleichzeitig holt der Anwalt und Partner einer erfolgreichen Kanzlei seinen Mitarbeiter Daniel und dessen Freundin Tanja mit an Bord. Was mit auf Hochglanz polierten Fassaden und Champagner beginnt, gerät auf dem engen Raum der Segelyacht schnell ins Wanken.

Den Auftakt unseres gemeinsamen Lesejahres 2023 machte der Klassiker “Sturmhöhe” von Emily Brontë. Damit sind wir direkt mit einer Jubilarin gestartet, denn Emily Brontë begeht in diesem Jahr ihren 175. Todestag. “Sturmhöhe” - Was für ein Drama, das sich um den andersartigen, den fremden und ausgegrenzten und von manchen als Teufel bezeichneten Heathcliff spinnt. Dieses komplexe Werk hat bei uns kein klares einfaches Urteil gefunden. Die Meinungen reichten von spannend bis verstörend.

🐋 Gelesen habe ich “Zur See” von Dörte Hansen auf der Insel Hiddensee. Auch wenn es eine Ostseeinsel ist, hatte ich doch das Gefühl mich sehr gut ins Buch, das auf einer fiktiven Nordseeinsel spielt, reinversetzen zu können. Und zwar in die Perspektive der Inselbewohner. Während ich von mir selbst die Sehnsucht nach der Insel kenne, zeigt Dörte Hansen die Kehrseite der Medaille: “Man muss, wenn man auf einer Insel leben will, die Tagesränder suchen.